Laurie Halse Anderson: Sprich (Beltz & Gelberg)

Zynisch, ein wenig gehetzt, immer auf der Flucht vor sich selbst und den eigenen Gedanken ist Mel, die den Leser mit auf ihr erstes Jahr an der High-School nimmt. Daß mit Mel etwas nicht stimmt, ist klar - dem Leser, ihr selbst. Was es ist, bleibt lange Zeit im Dunkeln. Nur soviel ist sicher: Auf einer Party in den Ferien hat Mel die Polizei gerufen. Die Party war danach gelaufen. Für alle. Das nimmt man ihr bis heute übel. Wenn es zumindest einen Grund gegeben hätte,  einen Skandal, von dem man hätte erzählen, der die beendete Party hätte aufwiegen können - eine “coole” Geschichte. Aber die gab es nicht. Keine Erklärung. Kein Wort. Zumindest nicht von Mel.
Nicht, daß es sich um ein körperliches Defizit handeln würde. Nein, sprechen kann Mel sehr wohl, hat es früher oft getan, unbeschwert, lachend - damals, als sie noch viele Freunde hatte. Freunde, sie sich nun von ihr abgewendet haben. Mel erträgt es mit einer stoischen Ruhe. Beobachtet sich selbst von fern. Glück ist etwas, das anderen zusteht, nicht aber ihr.
Doch es gibt auch Lichtblicke. Allen voran Mr. Freeman, den Kunstlehrer. Seine Aufgabe für dieses Schuljahr lautet: Jeder Schüler zieht eine Karte. Auf dieser steht ein Wort. Dieses Wort durch ein Kunstwerk mit Leben zu füllen, es dergestalt umzusetzen, daß es den Betrachter berührt, ist keine leichte Herausforderung.
Mels Wort klingt profan und ist es doch nicht: “Baum”.  Bäume kann sie seit dem zweiten Schuljahr zeichen. Aber einen Baum, der den Betrachter wirklich berührt?
Der Lehrer läßt ihr Zeit. Und mit jedem Ast und mit jedem neuen Blatt wächst über das Schuljahr hinweg auch in Mel ein Entschluß: Ihre eigenen Äste erneut auszustrecken, neue Wurzeln zu schlagen, mutig zu sein. Und sich dem zu stellen, was ihr wiederfahren ist.

In Laurie Halse Andersons Debutroman geht es um sexuellen Mißbrauch unter Gleichaltrigen, um eine Zurückweisung, die nur allzu schnell ins gesellschaftliche Aus führen kann: Angefaßt zu werden, ohne es selbst zu wollen. “Nein” zu sagen. Sein Recht einzufordern. Und doch nicht zu diesem Entschluß stehen zu können. Angst zu haben vor den Vorwürfen der anderen: Zicke. Prüde. Du hast es doch selbst gewollt. Da war doch gar nichts. Du spinnst ja. Ich dich anfassen? - Das hättest du wohl gern. Und deshalb stellst du dich so an?
Aber es kommt noch schlimmer: Der Junge, der sie bedrängt hat, wird der Freund ihrer besten Freundin.

Nüchtern und distanziert, innerlich erstarrt und doch pragmatisch genug, um weiterzuleben, ist Mel nicht das “klassisches Opfer”, nicht das verschüchterte kleine Mädchen, das in vielen Büchern mit Vergewaltigungsthematik gezeichnet wird. Sie ist bitterböse gegen sich und andere, ist hart geworden in ihrem Schweigen, beobachtet genau. Und erkennt am Ende, daß nur sie selbst den Weg zurück ins Leben finden, daß nur die Wahrheit ihr ihre Stimme zurückgeben kann. Ein ganzes Jahr soll vergehen, ehe die gefrorene Stille in Mel zu schmilzen beginnt und sie den entscheidenen Satz sprechen kann: “Ich erzähle es Ihnen.”

Die Autorin behandelt dieses schwierige Thema weniger “pädagogisch”, als die Inhaltszusammenfassung (des Baumes wegen) nahe legen könnte. Anderson nähert sich ihrer Protagonistin umsichtig aber schonungslos. Und so ist “Sprich” - erfreulicherweise - kein klassisches “Mädchenbuch” geworden sondern einer der wenigen Titel mit dieser Thematik, der auch von Jungen nach der Pubertät gelesen werden kann. Und verstanden werden wird.

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Laurie Halse Anderson: Sprich. Beltz & Gelberg 2001. 275 Seiten. 7,90 Euro (Taschenbuch)

Thema: sexueller Mißbrauch und der Umgang damit - der Mißbrauchten selbst und ihres Umfeldes

  Momo Evers am 21.06.2005 | |
Jugendbuch

Patrice Kindl: Anna in der Wand (dtv)

Anna ist schüchtern. Am liebsten mag sie mausgrau und Verstecke. Im Verstecken ist sie so gut, daß selbst ihre Schwestern und ihre Mutter sie oft nicht sehen. Selbst dann nicht, wenn Anna direkt neben ihnen steht. Schon Annas Vater war so - eines Tages war er einfach verschwunden, und niemand hat ihn jemals wieder gesehen. Anna ist ihre Unauffälligkeit nur recht. Und in die Schule möchte sie in keinem Fall.
Zum Glück ist Anna nicht nur schüchtern, sie ist auch sehr begabt. Im Haushalt repariert sie alles, sie kann nähen und kochen und backen. Kurz entschlossen versteckt sie sich vor der Schule und baut sich eine eigene Welt in der Wand. Nach und nach werden in alle Wände des Hauses Zwischenwände eingezogen. Geheime Eingänge ermöglichen nur Anna den Zutritt. Hier in der Wand lebt sie viele Jahre und repariert und näht für die ihrigen. Ihrer Familie scheint sie fast nur noch wie ein Geist.  Hat es Anna überhaupt jemals gegeben?

Doch eines Tages findet Anna eine Nachricht in den Ritzen des Gemäuers. “F” gesteht ihr ihre Liebe. Woher weiß “F” von ihr? Wer ist “F”? Und: War wirklich Anna mit der Liebeserklärung gemeint?  Langsam wagt sich Anna aus ihrem Versteck - hinein in ein neues, ein beängstigendes - vor allem aber ein aufregendes Leben.

Ein wunderbar phantasievolles, einfühlsames und humorvolles Buch über die Schüchternheit, die Wunder der Pubertät, Liebe und Mut - mit einer in ihrer Selbstlosigkeit und Unbedarftheit für das Leben unter Menschen durch und durch liebenswerten Protagonistin. 

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Patrice Kindl: Anna in der Wand. dtv junior extra 2000. 192 Seiten. 7,50 Euro (Taschenbuch)

Themen: Schüchternheit, Pubertät, erste Liebe

  Momo Evers am 05.05.2005 | |
Jugendbuch

Judith Clarke: Sternennächte (dtv)

Die Welt von Jess gerät aus den Fugen: Ihre geliebte Schwester Vida interessiert sich nur noch für Okkultismus und sonderbare Verhaltensregeln und spricht kaum mehr mit ihr. Ständig ist sie wütend und gereizt, und die jüngere Jess sorgt sich mehr und mehr um Vida, die immer dünner wird und keine Ruhe zu finden scheint. Jess ist allein - der Vater muß zur Arbeit und scheint mit der Situation überfordert; die Mutter liegt in ihrem Zimmer und hat sich in sich selbst zurückgezogen, spricht nicht mehr, mit niemandem. Seit die Familie fortzog von dem Haus am Meer, in dem sie glücklich waren, wird es immer schlimmer. Auch die Kartons ihres Bruders Clem sind bis zum heutigen Tag nicht ausgepackt.
Vida spricht von Geistern, doch Jess glaubt nicht, dass die Toten zurückkehren können - bis sich ein Mädchen zu manifestieren beginnt.  Kann sie das Schweigen brechen, das wie ein dunkler Schatten über der Familie liegt? Oder will sie noch mehr zerstören, Jess auch ihre Schwester nehmen?

Hilflosigkeit im Angesicht des Todes eines geliebten Menschen ist das zentrale Thema dieses gefühlvoll erzählten Jugendromans, den zu lesen auch Erwachsenen nahe geht.

Gut formuliert, eingängig zu lesen, bedrückend und düster, doch auch spannend bis zur letzten Seite und mit einem Schluß, der Mut macht, sich seinen Ängsten zu stellen - gemeinsam.

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Judith Clarke: Sternennächte. dtv/Reihe Hanser 2005. 191 Seiten. 7,50 Euro (Taschenbuch)

Themen: Umgang mit dem Tod einer nahe stehenden Person und die Hilflosigkeit, sich dieser unabdingbaren Tatsache zu stellen; Angst vor dem Loslassen und das Erkennen der Notwebdigkeit dessen

  Momo Evers am 03.05.2005 | |
Jugendbuch

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