Nancy Huston: Ein winziger Makel (rowohlt)

Eine Frau steht vor einem Spiegel und presst ihre Hand gegen das Glas, den Blick nach Innen gerichtet.Es ist das Schweigen, das Leben zerstört. Die Lüge, die Nähe unmöglich macht, auch jetzt noch, Generationen danach. In ?Ein winziger Makel? gewährt uns die gebürtige Kanadierin Nancy Huston einen Einblick in das Leben vierer Generationen: Sol, der Stern, um den die Welt seiner Mutter kreist, egozentrisch und fast schon ein wenig widerlich, der nicht versteht, weshalb sein Vater Randall seine Großmutter Erra so sehr liebt und seine Mutter Sadie eher weniger, und weshalb seine Urgroßmutter Erra ihr Muttermal so sehr liebt wie sein Vater, seine Großmutter Sadie es hingegen hasst. Und der aus allen Wolken fällt, als er eines Tages erfährt, dass Großmutter Sadie unbedingt mit Urgroßmutter Erra, mit der sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesprochen hat, nach Deutschland fahren will. Dort soll eine Schwester von Urgroßmutter Erra leben. Denn Erra soll einst Deutsche gewesen sein.
Sadie hat ihr Leben dem Forschen über Nazideutschland gewidmet, in dieser Reise sieht sie ihre große Chance. Doch was bleibt, sind zwei alte Frauen ? Erra und Greta, die sich so gar nicht wie Schwestern benehmen ? und der Streit um eine alte Puppe in samtenem Kleid.

Zeitenwechsel. Und wir lernen Randall kennen, den kleinen Jungen Randall, der seinen Vater von Herzen liebt und seiner Mutter doch nie genügen kann. Denn Sadie ist nie daheim, forscht wie besessen, fliegt um die Welt, nimmt ihr Kind und auch ihren Mann kaum wahr. Was auch immer Randall versucht, wie sehr er auch leidet und wünscht und hofft ? sie sieht ihn nicht; Auch dann nicht, als der Vater sie eindringlich fragt, warum sie sich so sehr für das Leben von Lebensborn-Kindern interessiere, deren Schicksal schon lange Zeit Geschichte ist, und doch nicht sehen will, wie ihr eigenes Kind bei seiner Sehnsucht nach einem lieben Wort der Mutter zu Grunde geht. Bis nach Israel bringt Sadie ihre Familie, treibt sie und lässt sie selbst dann nicht fort, als der Krieg beginnt. Noch ehe Randalls Vater sie überreden kann, fort zu gehen, hat sie einen Unfall, der sie für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl fesseln wird, und Randall ist sich sicher, dass das Mädchen Schuld ist, das er in der Schule in Israel kennen lernte. Das Mädchen, das ihn hasste, als ihre Familie den Bomben zum Opfer fiel ? Nouhza, die Palästinenserin ist. Und Randall, der sie von Herzen liebte.

Zeitenwechsel ? und wir lernen die junge Sadie kennen, die aufwächst im Haus ihrer Großeltern mit dem Namen Kriswaty, die kalt mit ihr sind, streng, ihr fremd und nicht vertraut. Ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch wünscht sich Sadie nichts sehnlicher, als an der Seite ihrer Mutter zu leben, fühlt sich klein und ungenügend, dick und ungeschickt. Das Muttermal auf ihrer Pobacke ist ihr der Feind, ist ihr verhasst, und wann immer sie wieder einmal nicht geliebt und zurückgestoßen wird, sucht sie die Schuld bei sich, flüstert der Feind selbst ihr ihre Schuld hämisch ins Ohr. Und sie schlägt den Kopf mit Kraft gegen die Wand, wieder und wieder, bis sie ein liebes Mädchen ist. Eines Tages, so hat ihre Mutter Kristina ihr versprochen, wenn sie eine berühmte Sängerin ist, wird sie Sadie zu sich holen ? und dann, als Sadie schon fast nicht mehr daran geglaubt hat, wird der Traum Wirklichkeit: Kristian heiratet Peter, und Peter wird Sadie der Vater, den sie bislang nie gekannt hat. Doch dann beschließt die Mutter, ihren Namen zu ändern, Erra will sie heißen und nicht länger Kristina Kriswaty ? und Peter, Ehemann und Manager zugleich, stimmt schließlich kopfschüttelnd zu.
Als Peter auf einer Geschäftsreise ist, klingelt es an der Tür, und davor steht ein wildfremder Mann, der Sadie Angst macht. Als sie ihrer Mutter sagt, wer gekommen ist, um sie zu sehen, erkennt sie an der Reaktion der Mutter, dass sich ihr Leben nach diesem Tag verändern wird.
Sie behält Recht. Die nächsten Stunden verbringt Sadie voller Angst, und als ihr Erra am Ende des Tages nicht erklären will, was wirklich geschehen ist, bricht Sadies Herz. Ihre Mutter kann sie nicht mehr lieben, und ihr eigenes Leben gehört fortan der Suche nach der Wahrheit und den Antworten, die sie niemals bekam.

Zeitenwechsel. Kristina ist sechs Jahre alt, liebt ihren Großvater abgöttisch und ihre Mutter von Herzen, nur mit ihrer Schwester Greta verbindet sie nicht gerade eine Herzensfreundschaft. Der Vater ist im Krieg, der Bruder fällt für den Führer, die Schwester bekommt eine wundervolle Puppe zum Weihnachtsfest, und Greta flüstert Kristina in der Nacht aus Gehässigkeit ein Geheimnis zu, das fortan in dem Mädchen gärt und reißt und nicht heraus kann. Ein neues Kind kommt in die Familie, der Großvater verfällt nach der Bombardierung Dresdens dem Wahnsinn, und Kristinas Weg führt sie immer weiter von Mutter und Großvater fort, getrieben von der Liebe zu Yanek, der ihr Bruder ist und es doch niemals sein kann. Als sie schließlich ein Schiff fort bringt über den Ozean hat sie gelernt und verstanden, dass sie niemals in ihrer Vergangenheit ankommen ? und auf ewig schweigen wird.

Erras Schweigen und Erras Schicksal umschließen die Familie wie ein unsichtbares Band, das auch am Ende des Buches, der zugleich sein Anfang ist, für die Familie selbst nicht gelöst werden kann. Nur der Leser versteht schließlich, was jeden dieser Erwachsenen trieb, was ihn hilflos machte, unfähig, das Leben der eigenen Kinder zu retten.

Nancy Hustons Charakterstudien sind eindrucksvoll und gehen tief;  ?Ein winziger Makel? ist vieles zugleich: ein Zeugnis der Hilflosigkeit, ein Generationenroman, ein historischer Roman, eine Gesellschaftsstudie, eine psychologische Studie, ein pädagogisches Fallmodell ? und ein Spiegel, in den sie uns selbst hinein- und zurückblicken lässt. Die Sprache hat Klang und Seele, erfindet sich mit jedem der Protagonisten neu, auch in der Übersetzung aus dem Französischen von Uli Aumüller und Claudia Steinitz.

Es ist ein trauriges und ein kluges Buch, das Lachen, Lieben und Hassen macht ? und vor allen Dingen Verstehen. Und das man nach der letzten Seite noch einmal von vorne lesen muss, weil man erst dann den Schlüssel in Händen hält, um all die unbeantworteten Fragen verstehen und die Fäden entwirren zu können, in denen vier Generationen ihr Lebtag gefangen waren und es vielleicht auf ewig sein werden.

Die Kanadierin Nancy Huston (* 1953) lebt seit 1973 in Paris und hat zwei Kinder mit dem Philosophen und Linguisten Tzwetan Todorov. Sie erhielt diverse Preise für ihre Sachbücher und Romane, auch für ?Ein winziger Makel?, das in Frankreich ? dem Inhalt deutlich mehr entsprechend ? ?Lignes de faille? heißt.

In Frankreich stand es lange auf den ersten Plätzen der Bestsellerliste ? zu Recht. Ein dunkles Buch, ein leidenschaftlich trauriges Buch, ein gutes Buch ? und fast schon ein klein wenig Literatur.

Nancy Huston: Ein winziger Makel. rowohlt 2008. 367 Seiten (Hardcover)
Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Claudia Steinitz.

Thema: Suche nach Identität, Nazi-Deutschland, Schweigen, Hilflosigkeit, Liebe, Leben, Adoption

Momo Evers am 19.05.2008 um 03:12 Uhr
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