Liebe im Mittelalter

»Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, und den suchen, den meine Seele liebet.«
?Die Bibel: Hohelied, 3.2.

»Wir erklären, daß es kaum vorkommen kann, daß Bauern am Hof der Liebe dienen; vielmehr verrichten sie das Liebeswerk auf natürliche Weise, wie Pferd und Maulesel.«
?Andreas Capellanus im 13. Jahrhundert

Liebe im Mittelalter ist für unsere heutige Zeit untrennbar mit dem Begriff »Minne« verbunden. Der Ausdruck »minne« wird seit dem 19. Jahrhundert als Terminus in der Literaturgeschichte für die Liebe in der mittelalterlichen höfischen Dichtung gebraucht. Im Mittelhochdeutschen stand »minne« ursprünglich nicht nur für die Liebesbeziehung zwischen den Geschlechtern, sondern bezeichnete auch die allgemein freundschaftlichen und emotionalen Beziehungen der Menschen untereinander sowie ein »freundliches Gedenken« gegenüber Gott. Der Bedeutungswandel hin zur erotischen und sexuellen Liebe erfolgte erst im Spätmittelalter.

Ursprung

Die Minnedichtung entstand in der Provence und wurde an den Adelshöfen von ritterlichen Sängern, den Troubadouren, vorgetragen und verbreitet. Diese vereinigten in ihren Liedern die christliche Liebe (die in der Liebe eine ethische, religiöse Macht sah) mit der antiken, die das Erotisch-Sexuelle betonte. Die antike Tradition wurde von den sogenannten Vaganten (jungen Geistlichen, die studiert, aber keine Aussicht auf ein geistliches Amt inne hatten und deshalb als von Hof zu Hof wanderten, »vagare« bedeutet »umherschweifen«) vertreten. Die bekannteste Sammlung von Vagantenliedern ist die Carmina Burana.
Die deutsche Minnedichtung vergeistigte die Troubadourlyrik zur »hohen Minne«, deren Texte zur Laute gesungen wurden. Die Gedichte wurden bei Hoffesten vor allen Anwesenden vom Verfasser selbst vorgesungen. Das Publikum beurteilte die Lieder, versuchte zu erraten, wer die anonyme Angebetete sei.

Die »Kanzone« (das Lied) teilt sich in den Aufgesang und den Abgesang. Der Aufgesang ist noch einmal in zwei Teile (Stollen) gegliedert; die Teile sind am Reimschema erkennbar. Thematisch enthalten Minnelieder die Liebeserklärung eines Ritters an eine (verheiratete) Adlige, den Preis ihrer inneren und äußeren Vorzüge, die Hoffnung auf Erhörung, die Klage über die Unerfüllbarkeit dieser Hoffnung und ? damit zusammenhängend ? über den Konflikt zwischen geistiger Liebe und Sinnlichkeit. Das Verhältnis des Ritters zu seiner Herrin ist in den Liedern oft dem Verhältnis zwischen Lehnsherr und Lehnsmann nachgebildet.

Bekannte deutsche Minnedichter waren: Heinrich von Veldeke, Friedrich von Hausen, Heinrich von Morungen, Hartmann von Aue und Reinmar von Hagenau. Walther von der Vogelweide (1168-1228) knüpfte wieder an die Vagantendichtung an und wandte sich so gegen das allzu Erstarrte, Wirklichkeitsferne der hohen Minne. Er schuf die sogenannten “Mädchenlieder” (auch »niedere Minne«), die sich nicht an eine adlige Dame richteten und die Erotik wieder in den Vordergrund stellten.

Blick in die Betten der Vergangenheit

Wie die Liebe im Mittelalter wirklich gelebt wurde, darüber scheiden sich die Geister. Fest steht, daß die Liebesheirat eine Erfindung der Neuzeit ist.
Joachim Bumke schreibt in seinem hervorragenden sozialgeschichtlichen Buch »Höfische Kultur«, daß es auch denkbar war, die Ideale von Rittertum und Liebe als Überredungstaktik zu nutzen, um eine Frau (die in der Wirklichkeit nach dem Stand der heutigen Forschung eher Gewalt und Hemmungslosigkeit als ausgesuchtem Benehmen nach Vorschrift höfischer Etikette ausgesetzt war) den eigenen Wünschen gefügig zu machen.
Im französischen »Lai du lecheor« diskutieren die Damen darüber, warum die Ritter so höfisch und tapfer sind:
»Warum sind sie gute Ritter? Warum lieben sie Turniere? [?] Warum sind sie so edelmütig und gütig? Warum hüten sie sich, Böses zu tun? Warum lieben sie es, zu hofieren, zu herzen und zu umarmen?«

Die Antwort lautet: » ? nur wegen einer einzigen Sache: con« (aus dem Lateinischen: cunnus, das Geschlechtsteil der Frau).
Ob jahrelanges, enthaltsames Werben wirklich (wie einige Wissenschaftler behaupten) zum Teil der ritterlichen Erziehung (zur Enthaltsamkeit oder auch »Triebzügelung«) gehörte, oder ob es sich auch bei der Minne nur um ein Gesellschaftsspiel handelte, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, können wir heute nur vermuten. Sicher aber ist: Die Liebe hatte ihren festen Platz in der Unterhaltungsform der adeligen Gesellschaft. Und sicher ist überdies: Die mittelalterliche Sexualethik war ungleichgewichtet.

Daß Männer ihre Frauen verstießen, um eine andere zur Frau zu nehmen, war nicht unüblich. Der Mann ging überdies oft erfahren in die Ehe, die Frau unerfahren. Bumke nennt unter anderem das Beispiel König Herwigs von Seeland und seiner Braut Kudrun. Nach der Hochzeit wurde Herwig empfohlen, seine Braut zur Vorbereitung auf die Ehe bei der Mutter zu belassen und sich erst einmal ein Jahr mit anderen Frauen zu vergnügen.

Liebe im Hoch- und Spätmittelalter
Zeitgenössische Stimmen

?Der Mann wird nämlich durch das natürliche Verlangen der Sinnlichkeit dazu bewegt, daß er sich fleischlich mit der Frau vereint.
Der Rechtslehrer Huguccio Ende des 12. Jahrhunderts

?Die Frau ist ein Gefäß, das immer bereit ist.
Kardinal Hostiensis, gestorben 1271

?Er war ein Mann, der sich gänzlich dem Ehebruch, der Hurerei und Schändung und jeglichen Schwelgereien und Unzüchtigkeiten hingab; gleichwohl war er tüchtig und kühn im Kampf und freigiebig gegenüber seinen Feinden.
Beschreibung Burchard von Usbergs über Konrad von Schwaben, gestorben 1196

?Es schadet nicht, wenn ein Mann sein Fleisch unter vielen teilt. Wenn aber eine Frau ihr Fleisch unter vielen teilt, erlischt in ihr das Sakrament.
Papst Innozenz IV, gestorben 1254

?Ich habe einen Mönch geheiratet, nicht einen König.
Eleonore von Aquitanien über ihren Mann König Ludwig VII, gestorben 1180, vor ihrer Scheidung. Als offizieller Scheidungsgrund wurde angegeben, Eleonore habe Ludwig nur Töchter geboren.

?Dem Mann ist nicht erlaubt, was der Frau nicht erlaubt ist.
Ausspruch des Heiligen Ambrosius im 12. Jahrhundert; seine Forderung blieb ohne nennenswerten Effekt

?Aber weil sie ihre rechtmäßigen Ansprüche durch das schmähliche Verlassen ihres Ehemannes verloren hatte, erhielt sie aufgrund des Widerspruchs rechtskundiger Männer nichts zurück. Denn eine Frau, die ihre eheliche Unbescholtenheit eingebüßt hat, geht auch ihres Erbrechtes verlustig.
aus der Chronik des Mönches Ortlieb über eine Frau aus der Familie der Grafen von Achalm

?Den ich von Herzen liebe, dem verweigere ich mich, nicht aus übergroßem Hass, sondern wegen meines guten Rufs.
Aus einer Strophe einer Dichtung Reinmars des Alten ? Reinmar von Hagenau, Minnesänger des 12. Jahrhunderts, die er einer Frau in den Mund legt

?Wer sich nun darüber wundert, daß ein ihm nicht verwandtes Mädchen nachts so nahe bei ihm lag und er sie nicht berührte, der weiß nicht, daß ein anständiger Mann sich alles dessen enthalten kann, dessen er sich enthalten will. Doch gibt es, weiß Gott, derer nur sehr wenige.
Hartmann von Aue in seinem höfischen Roman »Iwein«, Zeile 6574-82

?Ein goldener Ring im Rüssel eines Schweins ist ein Weib, schön, aber sittenlos. Die Bibel: Das Buch der Sprüche, 11.22)

aus: Behr, Falk und Evers, Momo: Ritter, Hexen, Scharlatane, G&S Verlag 2005