William Nicholson: Der Windsänger (Trilogie, dtv junior)

Cover Windsänger, sattes Rot mit persisch anmutendem Turm Eigentlich schreibt der Brite William Nicholson Drehbücher - etwa für Shadowlands oder Gladiator. Aber manchmal, da schreibt er Romane. Oder Jugendromane. Fantasy zum Beispiel. Und, ganz ehrlich? Der Augenblick, an dem ihn die Tests, die seine Kinder in der Schule durchlaufen mussten, und die er von Herzen verabscheute, zur Grundidee des Windsänger-Zyklus inspirierte, war schon eine kleine Sternstunde. Nicht so eine große mit Rumms und Feuerwerk - und sicherlich weder bahnbrechend für das phantastische Genre noch für das Jugendbuch. Aber eben doch eine jener kleinen Sternstunden, die dem großen, weiten Ozean der schlechten Bücher dieser Welt ein gutes hinzufügten.


Die Stadt Armaranth ist ein Hort der Prüfungen. Alles und jeder wird ohne Unterlass geprüft und nach einem strengen Punktesystem bewertet. Die Sauberkeit im Haus, die Gedichteaufsagfähigkeiten der Kinder, das Wissen des Vaters über die Gesetze der Stadt und vieles, vieles mehr fließt in die Familiennote ein. Und das Endergebnis entscheidet, in welchem Bezirk die Familie fortan leben darf - so lange zumindest, bis ihr Ergebnis sich verbessert oder verschlechtert. Von grauem über kastzanienbraunen, orangefarbenen, scharlachroten oder weißem Bezirk spannt sich die Zahl der Wohnorte, die Scheitern oder Sieg, sozialen Aufstieg oder wirtschaftliches Aus bedeuten können. Kontrolle pur - ganz so, wie es Kaiser Creoth VI. gefällt. So behauptet es zumindest der Oberste Rat, Gralshüter und Kerkermeister der gestrengen Diktatur der Stadt.
Über all dem Elend und propagierter Chancengleichheit einer schönen, neuen Welt thront stumm ein Wächter aus uralter Zeit: Der Windsänger. Inmitten der Arena der Stadt steht der hohe Turm, der einst sang und unter dessen Stimme das kleine Reich glücklich war - bis die Saren kamen, der Kaiser ihnen die Stimme des Windsängers zum Pfand gab und fortan ein immer rauerer Wind die Stimme des Windsängers ersetzte.
Eines Tages kommt auch für die kleine Pinpin, dem jüngsten Spross der Familie Harth, der Tag der ersten Prüfung. Trotz der Unterstützung ihrer Eltern und ihrer Zwillingsgeschwister Kestrel und Bowman versagt Pinpin kläglich - die Familie muss umziehen. Als der Lehrer in der Schule über sie spottet, reisst Kestrel der Geduldsfaden - sie rennt fort, erklimmt den Windsänger und schreit ihre Wut über die blitzenden Dächer der zu Tode geordneten Stadt hinaus. Die Wachen kommen - und mit diesem Tag ändert sich Kestrels und Bowmans Leben - und eines fernen Tages vielleicht auch das der Stadt Armaranth.


In zwei Erzählsträngen folgen wir der Reise von Kess, Bo und ihren Freunden und den Qualen, die die Eltern in der Zeit nach der Flucht ihrer Kinder durchleiden. Nicholsons Sprache ist klar und schnörkellos und seine Bilder sind zugleich von großer Intensität. Die Helden sind weich, sehr menschlich, fehlbar - und daher umso liebenswerter. Die moralische Botschaft liegt von Anfang an klar auf der Hand, wird nicht kramphaft mythologisiert und stört daher nicht im Geringsten. Fast fühlt man sich an die Fabulierlust eines Michael Ende erinnert, wenn Nicholson Orte und Völker und Artefakte ersinnt und den Leser immer wieder überrascht.
Danke, William Nicholson. Für einige Tage Staunen, für die Saren - und für Kestrel, der meine Tochter ihren Namen verdankt.



William Nicholson: Die Windsänger-Trilogie (Der Windsänger, Das Lied des Feuers, Gefangene des Meisters), dtv junior 2004. 336/396/407 Seiten. (Softcover, Schuber)
Aus dem Englischen von Stefanie Mierswa.


Thema: Hoffnung, Freundschaft, Abenteuer, Phantastik, Unterdrückung

  Momo Evers am 15.04.2008 | |
JugendbuchPhantastik

Nicky Singer: Auf einem schmalen Grat (dtv extra)

Tilly ist 15 Jahre alt. Sie hatte mal eine Mutter, die besonders war, die Größte auf dem Markt, wo sie Puppen verkaufte. Eine Mutter, die auf einem Motorrad zur Schule kam, um ihre Tochter abzuholen. Eine laute, eine starke Mutter. Doch diese Mutter ist fort. Diese Mutter ist gestorben. Tillys Vater ist ihr fremd geworden, und ihre Großmutter, die Tilly liebt, kann ihr nicht nahe sein, ist stets um Haltung bemüht und lebt nur in ihren (durch und durch perfekten) Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann. Tillys Freundin Mercy (schön, reich und glücklich) hat Tilly den Rücken zugewandt und hält sie für verrückt. Alles, was Tilly geblieben ist, ist eine Puppe aus den Kleidungsstücken ihrer Mutter. Eine Puppe, die sie zu falschen Entschlüssen treibt. Die sie wahnsinnig macht. Wie ihr ganzes Leben, das sie fortzureißen droht in einem Strudel aus Vorwürfen, Lüge und Verdrängung.

Jan ist 15, und er hat eine Mutter, die ihn liebt. Und eine zweite, die ihn fortgegeben hat. Jan ist adoptiert. Und alles, was ihn an seine leibliche Mutter erinnert, ist eine kleine Puppe, ohne Arme, zu schwach, um jemanden darin zu halten.

Jan und Tilly balancieren auf einem schmalen Grad. Eine Eisenbahnbrücke ist für beide der Ort, an den sie sich zurückziehen. Ein Ort, an dem man sterben könnte. Oder sich für das Leben entscheidet.

Jan sieht Tilly, und er weiß, daß sie einen Schritt weiter ist als er. Noch einen Schritt verzweifelter, wütender.
Er verliebt sich in sie. Doch er verliebt sich auch in Mercy, bewundert sie aus den gleichen Gründen, aus denen Tilly sie liebte. Denn Mercy ist frei. Jan und Tilly aber sind es nicht.
Und obschon sie nie wirklich miteinander gesprochen haben, helfen sich Jan und Tilly gegenseitig, aus dem Gefängnis ihrer eigenen Lügen auszubrechen und einen ersten Schritt in eine neue Richtung zu wagen: Liebe und Vertrauen in einen anderen Menschen aufzubauen, der sie um ihrer selbst Willen liebt und ihnen so den Mut gibt, für sich selbst stark zu sein.

Die Britin Nicky Singer legt mit Auf einem schmalen Grat ihren zweiten Jugendroman (nach Norbert Nobody; auch dtv) vor. Obschon das Buch ergreifende Passagen hat, zu fesseln vermag und die dunkle Wut der Protagonistin Tilly sehr nah und mitreißend, fast schon beunruhigend geschildert wird, überzeugt die Geschichte nicht vollständig. Am Ende geht alles einfach zu schnell. Was langsam aufgebaut wurde, löst sich zu leicht. Und vieles fügt sich so märchenhaft, daß es unglaubwürdig wirkt und nicht zum ansonsten realistischen Grundtenor der Erzählung passen will. Fast wirkt es, als hätte der Autorin auf den letzten 30 Seiten ein kleines Männchen im Ohr gesessen und geflüstert: “Wir brauchen ein Happy ending. Und zwar schnell.” Dieses glückliche Ende auf kleinstem Raum umzusetzen, ist Nicky Singer gelungen. Leider hängt sie den Leser dabei emotional ab.
Und so ist aus Auf einem schmalen Grat ein Buch geworden, das gelesen zu haben man nicht bereut, dem für eine Weiterempfehlung von Herzen aber 30 bis 40 Seiten mehr gefehlt hätten, um den Plot zu einem runden, stimmigen Ende zu bringen.

image

Nicky Singer: Auf einem schmalen Grat. dtv extra 2005. 189 Seiten. 7,50 Euro (Taschenbuch)

Thema: Alkoholismus, Adoption, Angst vor Verlust, Verdrängung, sich den eigenen Ängsten stellen

  Momo Evers am 28.06.2005 | |
Jugendbuch

Laurie Halse Anderson: Sprich (Beltz & Gelberg)

Zynisch, ein wenig gehetzt, immer auf der Flucht vor sich selbst und den eigenen Gedanken ist Mel, die den Leser mit auf ihr erstes Jahr an der High-School nimmt. Daß mit Mel etwas nicht stimmt, ist klar - dem Leser, ihr selbst. Was es ist, bleibt lange Zeit im Dunkeln. Nur soviel ist sicher: Auf einer Party in den Ferien hat Mel die Polizei gerufen. Die Party war danach gelaufen. Für alle. Das nimmt man ihr bis heute übel. Wenn es zumindest einen Grund gegeben hätte,  einen Skandal, von dem man hätte erzählen, der die beendete Party hätte aufwiegen können - eine “coole” Geschichte. Aber die gab es nicht. Keine Erklärung. Kein Wort. Zumindest nicht von Mel.
Nicht, daß es sich um ein körperliches Defizit handeln würde. Nein, sprechen kann Mel sehr wohl, hat es früher oft getan, unbeschwert, lachend - damals, als sie noch viele Freunde hatte. Freunde, sie sich nun von ihr abgewendet haben. Mel erträgt es mit einer stoischen Ruhe. Beobachtet sich selbst von fern. Glück ist etwas, das anderen zusteht, nicht aber ihr.
Doch es gibt auch Lichtblicke. Allen voran Mr. Freeman, den Kunstlehrer. Seine Aufgabe für dieses Schuljahr lautet: Jeder Schüler zieht eine Karte. Auf dieser steht ein Wort. Dieses Wort durch ein Kunstwerk mit Leben zu füllen, es dergestalt umzusetzen, daß es den Betrachter berührt, ist keine leichte Herausforderung.
Mels Wort klingt profan und ist es doch nicht: “Baum”.  Bäume kann sie seit dem zweiten Schuljahr zeichen. Aber einen Baum, der den Betrachter wirklich berührt?
Der Lehrer läßt ihr Zeit. Und mit jedem Ast und mit jedem neuen Blatt wächst über das Schuljahr hinweg auch in Mel ein Entschluß: Ihre eigenen Äste erneut auszustrecken, neue Wurzeln zu schlagen, mutig zu sein. Und sich dem zu stellen, was ihr wiederfahren ist.

In Laurie Halse Andersons Debutroman geht es um sexuellen Mißbrauch unter Gleichaltrigen, um eine Zurückweisung, die nur allzu schnell ins gesellschaftliche Aus führen kann: Angefaßt zu werden, ohne es selbst zu wollen. “Nein” zu sagen. Sein Recht einzufordern. Und doch nicht zu diesem Entschluß stehen zu können. Angst zu haben vor den Vorwürfen der anderen: Zicke. Prüde. Du hast es doch selbst gewollt. Da war doch gar nichts. Du spinnst ja. Ich dich anfassen? - Das hättest du wohl gern. Und deshalb stellst du dich so an?
Aber es kommt noch schlimmer: Der Junge, der sie bedrängt hat, wird der Freund ihrer besten Freundin.

Nüchtern und distanziert, innerlich erstarrt und doch pragmatisch genug, um weiterzuleben, ist Mel nicht das “klassisches Opfer”, nicht das verschüchterte kleine Mädchen, das in vielen Büchern mit Vergewaltigungsthematik gezeichnet wird. Sie ist bitterböse gegen sich und andere, ist hart geworden in ihrem Schweigen, beobachtet genau. Und erkennt am Ende, daß nur sie selbst den Weg zurück ins Leben finden, daß nur die Wahrheit ihr ihre Stimme zurückgeben kann. Ein ganzes Jahr soll vergehen, ehe die gefrorene Stille in Mel zu schmilzen beginnt und sie den entscheidenen Satz sprechen kann: “Ich erzähle es Ihnen.”

Die Autorin behandelt dieses schwierige Thema weniger “pädagogisch”, als die Inhaltszusammenfassung (des Baumes wegen) nahe legen könnte. Anderson nähert sich ihrer Protagonistin umsichtig aber schonungslos. Und so ist “Sprich” - erfreulicherweise - kein klassisches “Mädchenbuch” geworden sondern einer der wenigen Titel mit dieser Thematik, der auch von Jungen nach der Pubertät gelesen werden kann. Und verstanden werden wird.

image

Laurie Halse Anderson: Sprich. Beltz & Gelberg 2001. 275 Seiten. 7,90 Euro (Taschenbuch)

Thema: sexueller Mißbrauch und der Umgang damit - der Mißbrauchten selbst und ihres Umfeldes

  Momo Evers am 21.06.2005 | |
Jugendbuch

Patrice Kindl: Anna in der Wand (dtv)

Anna ist schüchtern. Am liebsten mag sie mausgrau und Verstecke. Im Verstecken ist sie so gut, daß selbst ihre Schwestern und ihre Mutter sie oft nicht sehen. Selbst dann nicht, wenn Anna direkt neben ihnen steht. Schon Annas Vater war so - eines Tages war er einfach verschwunden, und niemand hat ihn jemals wieder gesehen. Anna ist ihre Unauffälligkeit nur recht. Und in die Schule möchte sie in keinem Fall.
Zum Glück ist Anna nicht nur schüchtern, sie ist auch sehr begabt. Im Haushalt repariert sie alles, sie kann nähen und kochen und backen. Kurz entschlossen versteckt sie sich vor der Schule und baut sich eine eigene Welt in der Wand. Nach und nach werden in alle Wände des Hauses Zwischenwände eingezogen. Geheime Eingänge ermöglichen nur Anna den Zutritt. Hier in der Wand lebt sie viele Jahre und repariert und näht für die ihrigen. Ihrer Familie scheint sie fast nur noch wie ein Geist.  Hat es Anna überhaupt jemals gegeben?

Doch eines Tages findet Anna eine Nachricht in den Ritzen des Gemäuers. “F” gesteht ihr ihre Liebe. Woher weiß “F” von ihr? Wer ist “F”? Und: War wirklich Anna mit der Liebeserklärung gemeint?  Langsam wagt sich Anna aus ihrem Versteck - hinein in ein neues, ein beängstigendes - vor allem aber ein aufregendes Leben.

Ein wunderbar phantasievolles, einfühlsames und humorvolles Buch über die Schüchternheit, die Wunder der Pubertät, Liebe und Mut - mit einer in ihrer Selbstlosigkeit und Unbedarftheit für das Leben unter Menschen durch und durch liebenswerten Protagonistin. 

image

Patrice Kindl: Anna in der Wand. dtv junior extra 2000. 192 Seiten. 7,50 Euro (Taschenbuch)

Themen: Schüchternheit, Pubertät, erste Liebe

  Momo Evers am 05.05.2005 | |
Jugendbuch

Judith Clarke: Sternennächte (dtv)

Die Welt von Jess gerät aus den Fugen: Ihre geliebte Schwester Vida interessiert sich nur noch für Okkultismus und sonderbare Verhaltensregeln und spricht kaum mehr mit ihr. Ständig ist sie wütend und gereizt, und die jüngere Jess sorgt sich mehr und mehr um Vida, die immer dünner wird und keine Ruhe zu finden scheint. Jess ist allein - der Vater muß zur Arbeit und scheint mit der Situation überfordert; die Mutter liegt in ihrem Zimmer und hat sich in sich selbst zurückgezogen, spricht nicht mehr, mit niemandem. Seit die Familie fortzog von dem Haus am Meer, in dem sie glücklich waren, wird es immer schlimmer. Auch die Kartons ihres Bruders Clem sind bis zum heutigen Tag nicht ausgepackt.
Vida spricht von Geistern, doch Jess glaubt nicht, dass die Toten zurückkehren können - bis sich ein Mädchen zu manifestieren beginnt.  Kann sie das Schweigen brechen, das wie ein dunkler Schatten über der Familie liegt? Oder will sie noch mehr zerstören, Jess auch ihre Schwester nehmen?

Hilflosigkeit im Angesicht des Todes eines geliebten Menschen ist das zentrale Thema dieses gefühlvoll erzählten Jugendromans, den zu lesen auch Erwachsenen nahe geht.

Gut formuliert, eingängig zu lesen, bedrückend und düster, doch auch spannend bis zur letzten Seite und mit einem Schluß, der Mut macht, sich seinen Ängsten zu stellen - gemeinsam.

image


Judith Clarke: Sternennächte. dtv/Reihe Hanser 2005. 191 Seiten. 7,50 Euro (Taschenbuch)

Themen: Umgang mit dem Tod einer nahe stehenden Person und die Hilflosigkeit, sich dieser unabdingbaren Tatsache zu stellen; Angst vor dem Loslassen und das Erkennen der Notwebdigkeit dessen

  Momo Evers am 03.05.2005 | |
Jugendbuch