Die deutsche Rechtschreibung

Alt, neu oder neu-neu?
Die deutsche Rechtschreibung - Ein persönliches Resümé

Die »neue« Rechtschreibung hat bereits etliche Jahre auf dem Buckel. In manchen Bereichen habe ich mich mit ihr angefreundet, in anderen treibt sie mich noch heute zur Verzweiflung. Trotzdem habe ich meinen Frieden mit ihr gemacht.

Ein persönlicher Rückblick.

Erstkontakt

Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen: Beruflich verbrachte ich einige Monate in England, als mir der erste Spiegel mit der »neuen« Rechtschreibung ins Haus flatterte. Von der englischen Sprache umgeben hatte ich den Stichtag zur Einführung der neuen Regeln vollkommen vergessen (richtiger: verdrängt), und meine erste Reaktion war Irritation pur.

»Ja, hat der Spiegel denn jetzt am Endkorrektorat gespart?« dachte ich mir. Aber dann fiel es mir wieder ein: Die Reform ist da. Ein Tusch der Bürokratie. Ein Hoch dem Fortschritt. Ein Trauermarsch der Demokratie. Ein Desaster für meinen Berufsstand.

Denn schließlich war ich Lektorin und bin es noch heute.

Gutes ?

? gab es dennoch zu entdecken. Obschon mir das »ss« an Stelle des »ß« nach kurzen Vokalen bis heute ein ästhetischer Dorn im Auge ist, hat es sich bewährt. Eine sinnvolle Regel mehr, die ich im Rahmen meiner Dozententätigkeit für Deutsch als Fremdsprache immer wieder gern glücklichen Lernern präsentiere, denn die Regel folgt einer inneren Logik. Sie erleichtert den Fremdsprachenerwerb der deutschen Sprache. Da nehme ich das Schönheitsmanko gern in Kauf.

Auch wird vieles heißer gekocht als gegessen: Der Duden-Verlag verfolgt federführend seit langen Jahren die Entwicklung der deutschen Sprache mit. Änderungen gab es mit jeder Neuauflage zur Rechtschreibung, und zu Recht, denn das Deutsche ist eine lebende Sprache, die stetem Wandel unterliegt. Etliche Anpassungen wären ohnehin in Bälde vorgenommen worden, ohne daß sich die Weltöffentlichkeit darüber echauffiert oder gefreut hätte.

Kritik

? an der »amtlichen Regelung« hagelte es reichlich. Im Rahmen dessen hat die Rechtschreibreform der Welt im Jahr 2001 eine hervorragende neue Glossen-Rubrik beschert: den Zwiebelfisch des Online-Magazins von Spiegel.de (http://www.spiegel.de/zwiebelfisch), verfaßt von Bastian Sick, vor dessen Beobachtungsgabe, Handwerk und Witz ich an dieser Stelle mit Freuden den Hut ziehe. (Anbei: Im August 2004 erscheinen bei Kiepenheuer & Witsch die bisherigen Zwiebelfisch-Kolumnen in Buchform, ein Muß für alle Sprachvernarrten.)

Pannen und Fallstricke der Reform werden dort auf brillante Art und Weise dokumentiert.

Willkommen im 21. Jahrhundert

Nun, nach Ablauf der »staatlich verordneten Übergangsphase« gibt es die »neue neue Rechtschreibung« und somit theoretisch ein Ende der Rechtschreibverwirrung, die über Jahre hinweg vor allem Lehrer zur Verzweiflung trieb, denen bei Korrekturen immer wieder gern strahlend mitgeteilt wurde: »Das ist eine Mischung aus neuer und alter Rechtschreibung, und das ist alles erlaubt.« Faktisch aber existiert heute keine einheitliche deutsche Rechtschreibregelung mehr, zumindest nicht in der Praxis. Während Schulbuchverlage und staatliche Publikationen sich nach der amtlichen Regelung richten müssen, pflegen viele Redaktionen im Verlagssektor eigene Rechtschreib-Richtlinien wohingegen andere bis heute bei der alten Regelung geblieben sind oder zu ihr zurückkehren. Das kann einen Lektor durchaus in die Verzweiflung treiben, denn seitdem gilt es, in Auftraggeber-Parametern zu lesen: Heyne-Manual, die Empfehlungen der ZEIT, die alte Rechtschreibung oder ??

Einige Zeit habe ich schimpfend mit meinem Schicksal gehadert, bis mir jüngst ein Kollege die Augen öffnete. Die Rechtschreibung des 21. Jahrhunderts, so seine Worte, sei hoch demokratisch. Jeder könne weitestgehend so schreiben, wie er wolle. Und genau genommen sei dies gar nicht mal so schlecht, denn wenn es eines zu Genüge gäbe in Deutschland, dann sei das ein Übermaß an Vorschriften, Richtlinien und Bürokratie.

Ein Blick zurück

»Aber?« habe ich zu einer Entgegnung angesetzt und bin nachdenklich verstummt. Viele große Literaten nahmen sich seit jeher die Freiheit, mit der Rechtschreibregelung zu brechen, wenn es ihrem Text zu Gute kam. Und wenn ich es mir recht überlege, war die deutsche Literatur auch vor 1901 kein Jammertal. In diesem Jahr nämlich wurde auf einer Konferenz in Berlin von Vertretern der deutschen Bundesstaaten und Österreich-Ungarns eine einheitliche deutsche Rechtschreibung auf der Grundlage des Wörterbuchs eines gewissen Herrn Konrad Duden (1829-1911) beschlossen. Dieser, selbst Lehrer, stellte 1871 erstmals Regeln zur Rechtschreibung zusammen und folgte dabei dem phonetischen Prinzip: »Schreibe, wie du sprichst«. Im Jahr 1872 erschien auf der Basis seiner Überlegungen das Werk »Die deutsche Rechtschreibung. Abhandlungen, Regeln und Wörterverzeichnis mit etymologischen Angaben«. Die Idee einer »Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung« scheiterte allerdings 1876 zunächst am Einspruch des Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898). Doch Duden machte weiter und veröffentlichte 1880 das »Vollständige orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache«, das die Basis für eine einheitliche deutsche Rechtschreibung legte. Der oben erwähnten Konferenz von 1901 folgte 1902 ein Bundesratsbeschluß, der Dudens »Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis« für alle deutschen Bundesländer als verbindlich erklärte und auch in Österreich-Ungarn und der Schweiz auf Zustimmung stieß. Knapp 100 Jahre hat es gehalten, immerhin.

Darüber, ob wir den bei genauer Betrachtung unverhältnismäßig großen Aufwand der Regierung Kohl zum Thema Rechtschreibreform wirtschaftlichem Klüngel zu verdanken haben, möchte ich gar nicht näher nachdenken. Leider. Der investigative Journalismus ist nicht umsonst nahezu ausgestorben in Deutschland, denn er kostet viel Zeit und Geld.

Fazit

Letzten Endes ist der Text, ist der Inhalt das, was zählt. Packend soll er sein, fesselnd, mitreißend, informativ, ob mit oder ohne Rechtschreibakribie.
An einem ss oder ß liegt es jedenfalls nicht, ob eine Geschichte den Leser in seinen Bann zu ziehen oder ein Sachtext fundiert zu informieren und zu unterhalten weiß.
Mit Sprachgefühl und Verstand angewandt erfüllen alle derzeit verfügbaren Regelungen ihren Sinn: Sie sind in der Lage, Inhalte für den Leser verständlich zu transportieren.
Nicht zuletzt sind viele Hinweise der neuen Rechtschreibung Kann-Regelungen. Man muß sie nicht befolgen. Und sollte es in manchen Fällen auch nicht, wie das Gedicht ZUR ZEIT RAUBEND der Düsseldorfer Lyrikerin Ina Kramer gut auf den Punkt zu bringen weiß.

Privat habe ich mich dennoch entschieden, die alte Regelung beizubehalten und auch meine Homepage im Geiste Konrad Dudens zu verfassen.

Für viele Verlage ist die alte Rechtschreibung bis heute die gültige Richtlinie, ich muß keinen Verweis im Stil von »Diese Webside wurde nach der Interpretation der Rechtschreibregelung des Verlages X erstellt« auf meiner Homepage anbringen, und nicht zuletzt bin ich nicht nur Germanistin sondern auch passionierte Historikerin mit einem Sinn für Altes und Verstaubtes - drei gute Gründe, mir diesen kleinen Anachronismus zu gönnen.

Ich hoffe, Sie gedenken meiner mit Nachsicht.

© Momo Evers

ZUR ZEIT RAUBEND

Ein Mal sah ich ein Mal
Auf meiner Liebsten Hals
Furcht einflößender als
Ein Schandfleck aber schmal

Nichts sagend sah ich sie
An dann das Mal viel sagend
Da sie dies Mal ertragend
Am einflößendsten schrie

Ach sie ist ganz allein
Erziehend meine Gute
Vermutlich heißt sie Ute
Zurzeit raubend und fliehend

Ina Kramer 2004